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Landwirtschaftslehrerin, nicht offen zeigen durfte:

„Es ist mir unmöglich, mit ihr einmal auszugehen.

Ich muss den Schein wahren, worauf hier sehr viel

Wert gelegt wird.“

Statt an der Front zu stehen, „fraß“ sich Günther

in Kemme durch die dortige große Bibliothek und

las

Die Leiden des jungen Werther

von Goethe und

Lukrezia Borgia

vom jüdischstämmigen Alfred Schi­

rokauer. Beide Bücher inspirierten ihn zu einem

Tagebucheintrag: Der „Werther“ habe ihn „sehr ange­

sprochen“, berichtete er, wobei ihn insbesondere das

darin aufgeworfene „Selbstmordproblem“ zu einer

Stellungnahme zwinge: „Es ist nicht leicht, ja un­

möglich, eine allgemeine Schablone anzulegen. Also

spreche ich von mir. Dass ich aus Liebe oder ähnlich

komischen Gefühlen Schluss machen würde, wirkt

fast lächerlich auf mich, bei meiner Anschauung

über Gefühle. Dass ein rettungslos Kranker sich das

Leben nimmt, ist mir klar, ich würde es auch tun.

Und sonst? Es kann Feigheit sein, aber auch letzte

Konsequenz einer Tat. Hierzwischen ist aber nur

schwer zu entscheiden.“ Günther zog ein konkretes

Beispiel aus eigenem Erleben heran: „Aber damals,

als ich die Fußverletzung hatte, stand ich vor dieser

Frage. Wenn ich vor das Kriegsgericht gekommen wäre, ja das

Leben wäre vorbei, meine Ehre nach außen hin befleckt gewesen.

Vor mir selbst jedoch war ich rein. Ich hätte mich durchfressen

müssen. Tod wäre hier Feigheit und Schuldbekenntnis gewesen.

Hätte ich mich aber selbst verstümmelt, wäre dann nicht der

Selbstmord die einzige richtige Folgerung gewesen?“

Auch hinsichtlich der Figur des machtbewussten und als

skrupellos geltenden Cesare Borgia geriet Günther Roos ins

Grübeln. Aus seiner Lektüre von Schirokauers Buch zog er

schließlich folgende Schlüsse: „Der Erfolg allein rechtfertigt

und entsühnt. Auch Augustus war durch Blut zum Kaisertum

geschritten; Augustus wie alle großen Eroberer.“ Hier sah er

offenbar eine Lösung auf der Suche nach Rechtfertigungen für

die ihm zumindest in Teilen bekannten Gräueltaten des NS-Regimes: „Der letzte Schritt entschuldigt und tilgt den Frevel al­

ler früheren, wenn das Ziel erreicht wird. Dann sieht die Welt

und Nachwelt nur den ruhmreichen Sieger. Dann wird plötzlich

für Zeitgenossen und Nachfahren aus dem Mörder und Verräter

der Heros der Geschichte.“ In einer solchen Der-Zweck-heiligt-

die-Mittel-Mentalität sah Günther angesichts eines noch immer

erhofften Sieges einen möglichen Ausweg. „Wahrhaftig, nur der

Erfolg entscheidet. Angenommen, wir verlören diesen Krieg,

dann wäre Hitler der größte Bluthund der Geschichte, von dem

man nur mit Schaudern spricht. So aber ist er der Erretter Europas.“

Zweifel versuchte der seit Jahren systematisch indoktrinierte

Günther erfolgreich im Keim zu ersticken und mittels permanent

aufgeschnappter Propagandafloskeln zu vertreiben. So nahm er

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Helga und Günther in Kemme,

September 1944

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1944: „Der Endsieg ist greifbar nahe gerückt!!“

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