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Regimenter und auch der Reichswehr

eingeklebt worden seien. „Soldat zu sein,

musste doch etwas wirklich Erstrebens-

wertes sein. Und was habe ich mich oft

gegrämt, nicht schon 130 Jahre früher ge-

boren zu sein, um eine so heroische Zeit

wie die der Befreiungskriege miterlebt zu

haben!“

Nationalsozialismus und Anti­

semitismus – „Hängt die Juden!

Stellt den Thälmann an die

Wand!“

Die weitaus „stärkste Prägung“, daran

ließ Günther Roos zeitlebens keinerlei

Zweifel aufkommen, habe er aber fraglos

unmittelbar „durch den Nationalsozialis-

mus“ erfahren. Dieser Prozess setzte auf-

grund der politischen Orientierung des

Vaters lange vor 1933 ein und fand im

Verhalten des kleinen Günther auch be-

reits vor der NS-Machtübernahme ihren

ersten belegbaren Ausdruck. Vermutlich

im Juli 1932 habe ihn seine Mutter nach

dem Besuch der Sonntagsmesse anläss-

lich der Reichstagswahlen mit ins Wahl-

lokal in der Karlshalle genommen.

Als sie zur Stimmabgabe die Wahl-

kabine aufgesucht hatte, habe eine

ausgesprochen fromme Bekannte

von Familie Roos den Raum be-

treten, ihn erblickt und gefragt:

„Na, Günther, tust du wählen?

Und was wählst du denn?“ Wohl

durch innerfamiliäre Gespräche

dazu inspiriert, habe er stolz ge-

antwortet: „Na, den Hitler!“ „Ein

entsetztes Aufstöhnen war die

Reaktion“, berichtete Günther

Roos später von dieser Begeben-

heit. „Aber es sollte noch schlim-

mer kommen. Denn nun erschien

eine ganze Gruppe von Nonnen

aus dem Lyzeum im Wahllokal.

Und der Dialog ging weiter: ‚Ach,

hören Sie doch mal Schwester,

was der kleine Roos gesagt hat!

Nun sag uns noch mal Günther,

wen wählst du denn?‘ Und ich: ‚Natürlich

den Hitler!‘ Langsam bildete sich um

mich ein ganzer Kreis von Interessenten,

und immer wieder musste ich die Frage

nach der Wahl beantworten. Während

ich nach jeder Antwort stolzer und stol-

zer wurde, so im Mittelpunkt des Inter-

esses zu stehen, bereitete sich bei den

Zuhörern mehr und mehr Entsetzen

aus. Endlich erschien meine Mutter. Sie

erstarrte fast vor Schreck, packte mich

am Kragen und verließ fluchtartig und

mit hochrotem Kopf die Karlshalle. Es

war übrigens das letzte Mal, dass ich

mit in ein Wahllokal gehen durfte.“

Handelte es sich hierbei wohl eher um

eine isolierte Episode ohne weitere Kon-

sequenzen, dürfte der achtjährige Gün-

ther die NS-Machtübernahme ein halbes

Jahr später schon weitaus bewusster als

großes, insbesondere aber positiv bewer-

tetes Ereignis wahrgenommen haben.

Eine Nachbarin, so erinnerte er sich,

habe am Mittag des 30. Januar 1933 in der

Kurfürstenstraße geklingelt und dann

von der Straße aus geschrien: „Sieg, Sieg!

Hitler ist Reichskanzler!!!“ Trotz seiner

jungen Jahre habe sich bei ihm das Ge-

fühl eingestellt, „dass irgendetwas Beson-

deres geschehen sei“. Und weiter: „Dieser

Eindruck verstärkte sich, als ich abends

bei Herrn Ludwig Zimmer an dessen

Detektorradio mit Kopfhörern einen Be-

richt von dem Fackelzug durch Berlin mit

anhören durfte.“

[

Û

10]

Zu einer Art „Erweckungserlebnis“ wur-

de für Günther dann aber der ja auch in

Brühl mit großem Pomp begangene „Tag

von Potsdam“ am 21. März 1933, an dem

er trotz seiner gerade acht Lebensjahre

aktiv teilnahm. Gemeinsam mit einem

seiner in der Nachbarschaft wohnenden

Spielkameraden, dem Sohn des damali-

gen Ortsgruppenleiters Pott, war er ohne

Wissen seiner Eltern Teil des abendlichen

Festzugs, in dem er sogar eine der Fa-

ckeln tragen durfte, was ihn natürlich

mit großem Stolz erfüllte. Erst als seine

von alledem nichts ahnende Mutter ihn

bei Anbruch der Dämmerung bei Potts

abholen wollte, erfuhr sie von den Akti-

vitäten ihres Sohnes. Der sei, so wurde

ihr mitgeteilt, mit dem Jungvolk unter-

wegs. Und als seine Mutter dann unwis-

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97 /

Die Kinder von NSDAP-Orts­

gruppenleiter Willi Pott mit einem

englischen Gast (Mitte) vor der

Brühler Gaststätte Rösch

10 Ü Die NS-Machtübernahme am 30. Januar 1933

Prägungen

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