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Leben mit sich gebracht, sondern stattdessen unerwartete Auf-

stiegsmöglichkeiten geboten. „Wie lebte es sich in einer Dikta-

tur?“ Als Günther Roos diese Frage 1987 vermutlich zum ersten

Mal gestellt wurde, fiel seine Antwort daher eindeutig aus: „Wir

waren frei! Denn unser Begriff der Freiheit deckte sich mit dem

der Macht. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass persönliche

Freiheit vor dem Allgemeinwohl zurückstehen musste. Und wir

sangen: ‚Nur der Freiheit gehört unser Leben. Mit der Fahne für

Freiheit und Brot.‘ Hitler hatte uns doch erst richtig frei ge-

macht! Man trug Uniform, das kam den pubertären Nöten ent-

gegen, dieses Geltungsbewusstsein. In meinem Tagebuch von

damals steht: ‚Ich will herrschen, und alle sollen Angst vor mir

haben.‘ Das wurde wunderbar ausgenützt.“ Dieser Einschätzung

folgt die auf den ersten Blick überraschende Feststellung: „Zum

ersten Mal unfrei habe ich mich 1945 gefühlt, als ich nicht mehr

‚Heil Hitler‘ sagen durfte. Ich habe mich während der ganzen

Nazizeit nicht unfrei gefühlt, weil ich genau mit dem, was mir

beigebracht wurde, übereinstimmte.“

³

Das Ziel

Wie lässt es sich erklären, dass Günther Roos, der 1924

in der Kleinstadt Brühl in der Nähe von Köln geboren

worden und im Schoß einer intakten, katholisch ge-

prägten Großfamilie aufgewachsen war, sich nicht nur

zu einem begeisterten Jungvolkführer, sondern zu einem

gläubigen Hitler-Verehrer, skrupellosen Machtmen-

schen, Denunzianten und ausgesprochenen Rassisten

entwickelte? Das Ziel dieses Buches ist es, den Heran-

wachsenden in seiner inneren und äußeren Entwick-

lung zu begleiten: zunächst auf dem schnellen und zu-

nehmend begeistert verfolgten Weg tief hinein in das

NS-System, dann als enthusiastischen Soldaten der

Wehrmacht und schließlich bei dem langwierigen und

beschwerlichen Prozess der schrittweisen Bewältigung

der Folgen jener massiven Indoktrination, der er wie

die meisten seiner Altersgenossen in den Jahren zwi-

schen 1933 und 1945 ausgesetzt gewesen war und die

bei ihm auf so fruchtbaren Boden gefallen war.

Das, was dem jungen Günther Roos immer wieder durch die

NS-Propaganda und sich stetig wiederholende öffentliche Insze-

nierungen auch im kleinen Brühl vermittelt wurde, war eine ein-

zige Demonstration „deutscher“ Macht. Es wird in diesem Buch

immer wieder darum gehen, wie und von wem ihm solches Denken

nahegebracht wurde, welche Schlüsse er daraus zog und wie ihn

eine immer massivere Indoktrination zunehmend veränderte

und bestimmte.

Um dem auf den Grund zu gehen, müssen zunächst das ge-

sellschaftliche und familiäre Umfeld des Protagonisten in gebo-

tener Kürze ausgeleuchtet werden, um sich dann auf dessen Ent-

wicklung in den Jahren der NS-Herrschaft zu konzentrieren.

Dabei kann die frühe Lebensgeschichte von Günther Roos natur-

2 /

Kundgebung der Brühler

Hitlerjugend am Stadion,

Frühjahr 1934

2

Einleitung

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