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Unbewusst versuchten wir, nicht erwach-

sen zu werden und Kinder zu bleiben. Wir

versuchten, so zu bleiben, wie unsere

Freundschaft vor zehn Jahren begonnen

hatte, als wüssten wir, dass die Freund-

schaft einschläft, wenn sich unser Verhal-

tensmuster ändert. Der dritte Bereich, der

gerade in diesen Tagen begann, war das

total verkrampfte Verhältnis zu den Mäd-

chen. Ich hätte ja gerne gewollt, aber ich

war voller Hemmungen. In dem Club, be-

stehend aus Waltraud M., Helmi E. und

Annemarie Z. sowie Hans I., Stetz (= Her-

mann M.) und Dieter C. lief ich mehr

oder weniger als fünftes Rad am Wagen

mit. Und der letzte Bereich war die HJ.

Hier war ich ‚King‘ und konnte mein Ego

im Schikanieren von Untergebenen und

bei Saufereien mit anderen Führern auf-

bauen.“

Die Defizite in Bezug auf Beziehungen

zu Mädchen, in dem einen seiner damals

parallel geführten „vier Leben“, galt es

für Günther offenbar auf anderem Gebiet

auszugleichen und für sich selbst durch

konstruierte Erklärungen erträglicher zu

machen. Auch hierfür musste Adolf Hit-

ler – oder besser: das von der NS-Propa-

ganda vermittelte Bild seiner Person –

herhalten. „Wir wurden doch so erzo-

gen“, resümierte Günther Roos mit Blick

auf den Aspekt „Pubertät und National-

sozialismus“ im Jahr 2012 rückblickend,

„dass wir dem Führer nacheifern muss-

ten, der ja auch auf Liebe und Frauen

verzichtet hat und seine ganze Kraft nur

dem Volke widmet“. Der für Jugendliche

daraus abgeleitete Tenor habe gelautet:

„Wir müssen uns fit halten durch Sport

und geistige Disziplin, um später einmal

dem Führer gesunde Kinder schenken zu

können. Das war der Auftrag, den wir

hatten.“ Die Betonung lag dabei ganz

eindeutig auf „später“, und so fanden in

diesem Punkt damals geltende morali-

sche Konventionen und NS-Ideologie

einträchtig zusammen. „Es waren alles

nur Schwärmereien ohne praktische Er-

fahrungen“, fasste Günther Roos seine

sexuellen Erlebnisse dieser Lebensphase

zusammen und ergänzte: „Es gab eine

Grenze: So etwas tut man nicht.“ All die-

se Vorgaben und Erwartungen hätten

dann – zumindest mit Blick auf die eige-

ne Person – eine Konsequenz gehabt:

„Man kam gar nicht dazu zu pubertieren.“

Deutlichen Ausdruck verlieh er sei-

nem Denken, wohl weniger seinem Fühlen,

in einem „Liebe?“ überschriebenen Ge-

dicht, das einen beredten Beleg für den

Versuch darstellt, unerfüllte pubertäre

Wünsche mithilfe der NS-Ideologie in ein

positives Licht zu rücken:

Der Birkhof

Wohl nicht zuletzt aufgrund der ausblei-

benden Erfolge bei Mädchen konzent-

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1940: „Es ist bald wie im Märchen. Deutschland wird siegen!“

1940