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gemessen wurde, war es sicherlich un-

denkbar, dass jemand, der dieses zentrale

Dokument nicht einmal besaß, Jungvolk-

führer werden konnte. Immerhin galt es

für jeden Hitlerjungen als „Ausweis über

seine Betätigung“, weil in ihm alles ver-

zeichnet wurde, „was für die geistige und

körperliche Entwicklung und Erziehung

des jungen Nationalsozialisten von Be-

deutung ist“.

⁶⁷

Unmittelbar nach der Ein-

führung des Leistungsbuches hatte auch

die im Hause Roos gelesene NS-Tages­

zeitung

Westdeutscher Beobachter

im Au-

gust 1934 klargestellt, „dass seine An-

schaffung und Ausfüllung Pflicht eines

jeden einzelnen Junggenossen“ sei. Der

Erwerb des Leistungsabzeichens wurde

somit zur Selbstverständlichkeit erhoben:

„Es muss deshalb die vornehmste Pflicht

eines jeden HJ-Führers und Hitler-Jun-

gen sein, diese hohe Auszeichnung vom

Reichsjugendführer verliehen zu bekom-

men.“

⁶⁸

Noch Jahrzehnte später konnte sich

Günther Roos bis ins Detail an die schrift-

lich abzulegende „weltanschauliche“ Prü-

fung für das nun dringend erforderliche

„Leistungsabzeichen in Eisen“ erinnern, in

der all das abgefragt wurde, was den Her-

anwachsenden zuvor in der Schule und bei

Heimabenden immer wieder vermittelt

worden war: die wichtigsten „nationalen

Feiertage des deutschen Volkes und der Be-

wegung“, die „bedeutendsten Gestalten der

nordischen und deutschen Götter- und

Heldensagen“ sowie die „großen Führerge-

stalten der deutschen Geschichte“. „Das

waren Arminius, Otto der Große, Heinrich

der Löwe, Friedrich der Große, Bismarck

und natürlich Hitler.“ Die ideologische Ziel-

richtung solcher Schulungsarbeit lag klar

auf der Hand: „Es waren alles Leute, deren

Blick nach Osten gerichtet war.“

[

Ü

48]

Der Weg zum Jungvolkführer war für

Günther zunächst durchaus steinig, denn

allem Anschein nach musste er, der zuvor

ja nicht die kleinste ihn dafür qualifizie-

rende Leitungsfunktion ausgeübt hatte,

zunächst eine Zwischenstation in einer

der HJ-Sondereinheiten, nämlich der

„Nachrichten-HJ“, einlegen. Hier war er –

offenbar zusätzlich zum normalen Jung-

volkdienst – ab Mitte Mai 1939 aktiv und

bestrebt, keine Dienste und Übungen zu

verpassen. Das wiederum führte dazu,

dass sich sein zuvor vom Lesen und Spie-

len bestimmter Lebensrhythmus grundle-

gend veränderte, was Auszüge aus seinem

Tagebuch in aller Deutlichkeit belegen:

10. Juni: „Hatte nachmittags im Nachrich-

tentrupp Antreten.“

11. Juni: „Hatte nachmittags Antreten. War

Bannsportfest. Wir haben Freiübungen ge­

macht.“

14. Juni: „War nachmittags antreten.“

15. Juni: „Hatte um sechs Uhr Vorbeimar-

schüben für Sonntag.“

16. Juni: „Hatte nachmittags auf der Bonn-

straße Antreten. Haben wieder Vorbei-

marsch [wohl für den Kreisparteitag der

NSDAP Köln-Land am 18. Juni] geübt.

War danach turnen.“

17. Juni: „Hatte nachmittags beim Nach-

richtendienst Antreten.“

18. Juni: „War nachmittags auf dem Kreis-

parteitag in Köln.“

Von diesem Zeitpunkt an, so beschrieb

Günther Roos diese Zeit 1989 rückbli-

ckend, sei er vom Jungvolk „mehr und

mehr vereinnahmt“ worden. „Fast täglich

war Antreten.“ Diesen Umstand, so beton-

te er zugleich, habe er damals aber kei-

neswegs als Belastung oder als Beschnei-

dung seiner Freizeit empfunden. Im Ge-

genteil: „Es war eine freudig erfüllte

Pflicht.“ Und der galt es, klaglos nachzu-

kommen, wie etwa am 25. Juni. Nachdem

er wie jeden Sonntag zunächst um 8 Uhr

den Gottesdienst besucht hatte, musste

Günther direkt anschließend zum „An-

treten“: „War im Nachrichtentrupp an

einer Sanitätsübung beteiligt. Haben aus

einer Feldküche gegessen. Es hat schreck-

lich geregnet. Mussten in dem Regen die

Leitungen abbrechen. Mussten zu Fuß von

der Grube hinter Pingsdorf mit einem

Handwagen bis nach Brühl gehen. Waren

um neun Uhr [abends] wieder hier. War

nass bis auf die Knochen.“

Solches Engagement wurde nach einer

Bewährungsphase schließlich – wie es zu-

vor mit Stammführer Wieland „geregelt“

48 Ü Das Leistungsbuch

1939: „Es lebe Deutschland!“

113

1939