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Internat nach St. Goarshausen zu wech-

seln. Damit war auch er weitgehend aus

Günthers Blickfeld verschwunden und

nur noch in den Schulferien verfügbar.

Das alles zusammengenommen bedeute-

te nicht weniger, als dass sich der 14-Jäh-

rige im Frühjahr 1939 seiner zentralen

Bezugspersonen beraubt sah und sich da-

her völlig neu orientieren musste.

Auf dem Weg zum

Jungvolkführer

Nach diesen Einschnitten trat nun jene

Gruppierung immer stärker in Erschei-

nung, der Günther bereits ab März 1933

angehört hatte: das Jungvolk. Seine Zeit

im Jungvolk hatte er, wie bereits geschil-

dert, nach anfänglicher Begeisterung

eher lustlos absolviert. Er ging ausweis-

lich seiner Tagebucheinträge zwar

regelmäßig zum Jungvolkdienst, nahm

dabei

auch

an Schießübungen, Werbemärschen oder

Altmaterialsammlungen teil, ließ dabei

aber nicht einmal im Ansatz Ambitionen

auf einen Führerposten erkennen. Das

weitgehende Desinteresse lässt sich allein

schon daran ablesen, dass er, der ansons-

ten ständig Kontakt zu Gleichaltrigen

und „Abenteuer“ suchte, nicht an einem

der zahlreichen Zeltlager teilnahm, die

seitens der Brühler Hitlerjugend in je-

dem Sommer angeboten wurden. Er zog

stattdessen das ruhige, durch exzessives

Lesen geprägte Ferienleben in der elter­

lichen Wohnung, das Spielen mit Kurt

und den Besuch des Schwimmbades vor.

Aber auch während der Schulzeit blieb

Günthers Engagement im Jungvolk sehr

überschaubar. „War morgens in der Schu-

le. Bin nachmittags zu Hause geblieben

und habe gelesen. Bin um 5 Uhr antreten

gegangen. Hatten Heimabend bis 7 Uhr.

Habe danach gelesen“, lautet der in dieser

Hinsicht typische Tagebucheintrag vom

11. Januar 1939.

Allerdings taucht im Tagebuch ver-

schiedentlich der Name von Peter Wie-

land auf, der hinsichtlich der weiteren

Entwicklung von Günther Roos sehr bald

eine wichtige Rolle spielen sollte, hatte er

zu dieser Zeit doch als Stammführer die

höchste Position im Brühler Jungvolk

inne. Das war insofern von großer Be-

deutung, als sich mit dem 20. April jener

Tag näherte, an dem die zu diesem Zeit-

punkt 14-jährigen Jungvolkangehörigen

automatisch in die HJ überführt wurden,

eine Tatsache, der sich Günther zunächst

offenbar nicht recht bewusst war oder die

er schlicht vergessen hatte. Die drohende

Überweisung, so kommentierte Günther

Roos Ende der 1980er-Jahre noch immer

mit großem Unbehagen seine damalige

Lage, sei für ihn dann „ein riesiger Schock“

gewesen. Nicht nur der Umstand, dass

ihm das Jungvolk in den sechs Jahren

zuvor auch ohne weiter gehende Ambitio-

nen rein gewohnheitsgemäß durchaus

eine Art „zweite Heimat“ geworden war,

ließ ihn einen Verbleib dort anstreben,

sondern vor allem wohl der Ruf „des

primitiven Rabaukentums“, der der HJ

auch in Brühl anhaftete: „Da wollte ich

auf keinen Fall hin.“ Dem Jungvolk,

das weitgehend unter der Leitung höhe-

rer Schüler stand, habe der Ruch des Eli-

tären angehangen, ergänzte Günther

Roos 2008, während sich die HJ weit

stärker im „politischen Tagesgeschäft“

engagiert habe, wobei er insbesondere

deren Teilnahme an den Zerstörungen

während des Pogroms im November 1938

hervorhob.

Vielleicht war es der 20. März 1939, an

dem ihm der bevorstehende Wechsel

dann plötzlich bewusst wurde, denn er

notierte – allerdings knapp und ohne

weitere Kommentierung: „Bin heute

sechs Jahre im Jungvolk.“ Unmittelbar

danach scheint sich Günthers Engage-

ment im Jungvolk beträchtlich verän-

dert – sprich intensiviert – zu haben. An-

gesichts des drohenden Ungemachs gab

es für ihn im Frühjahr 1939 wohl nur eine

Option: Günther musste schnellstmög-

lich zum Jungvolkführer werden, denn

diese blieben von einer Überweisung in

die HJ verschont. Die Chancen standen

keineswegs schlecht: Bedarf an solchen

Führern gab es, gerade in Kleinstädten

wie Brühl, praktisch immer, weil sich hier

1939: „Es lebe Deutschland!“

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