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Wieland sicherlich zur Bedingung für die

unbürokratisch-pragmatische Aufnahme

ins Führerkorps des Brühler Jungvolks

gemacht haben dürfte.

Der dringendste Nachholbedarf be-

stand ganz offensichtlich bei der Erlangung

des „HJ-Leistungsabzeichens“. Ab Mai

1939 war er ausweislich seines Tagebuches

nun Tag für Tag unterwegs, um für die

einzelnen Prüfungen zu trainieren und

diese anschließend abzulegen: Turnen,

„Gepäckmarsch“, Schießen, 3 000-Meter-Lauf, Geländedienst, Schwimmen und die

„weltanschauliche Prüfung“ bildeten zeit-

weise den eindeutigen Schwerpunkt seiner

außerschulischen Tätigkeiten. Im Eiltem-

po musste Günther nun nachholen, wor-

an er jahrelang kein Interesse gezeigt hat-

te, denn obwohl das „Leistungsbuch“, in

das sämtliche Prüfungsergebnisse akri-

bisch genau eingetragen wurden, bereits

1934 eingeführt worden war, hatte er bis

zum April 1939 offenbar darauf verzichtet,

dessen Existenz überhaupt zur Kenntnis

zu nehmen, und erst recht, die Erbringung

der darin geforderten Leistungen ins Auge

zu fassen.

Da dem „Leistungsbuch“ und den dar-

in dokumentierten Prüfungen in der Hit-

lerjugend eine besondere Bedeutung bei-

Dienst und Leistungsbuch

Der „Dienst“ in der Hitlerjugend sollte die Jugendlichen „durch ständige politische Schulung zu

echten, starken Nationalsozialisten“ heranbilden und sie körperlich „zu Kraft, Ausdauer und Härte“

erziehen. „Diese Jugend soll gehorchen lernen und Disziplin üben“, hieß es unmissverständlich

im „Organisationsbuch“ der NSDAP, wobei der Dienst zugleich auch „die Grundlage zu wahrem

Führertum“ legen sollte. So wurden die Jugendlichen in ein festes Schema von Leistungs­

anforderungen gepresst, durch das sie körperlich trainiert und politisch indoktriniert wurden.

Mindestens zweimal pro Woche war Dienst angesetzt, oft zusätzlich an einem weiteren Tag am

Wochenende oder bei einer der zahlreichen Sonderaktionen. Viel Zeit für Freizeit blieb so für

aufstiegsorientierte Mitglieder nicht mehr.

Jeden Mittwoch fand der Heimnachmittag bzw. -abend mit Singen, theoretischem Unterricht

und weltanschaulicher Schulung statt. Am Samstag folgte das „Antreten“ mit reichlich Sport, zu

dem bei den Jungen auch die „Wehrertüchtigung“ in Form von Schießübungen und der zumeist

beliebten Geländespiele zählte. Zweimal im Monat sollte zudem eine Wochenendfahrt durch­

geführt werden, bei der häufig das Marschieren in Kolonne, also „in der Zucht der Kameradschaft

und des Gehorsams“ geübt wurde.

Außerdem gab es zahlreiche Sonderdienste wie die Teilnahme an Eltern- und Werbeabenden,

Kundgebungen, Appellen und Feiern. Zusätzlich wurden HJ-Angehörige im Rahmen ihres Dienstes

als Erntehelfer eingesetzt oder mussten bei den zahlreichen Sammlungen des Winterhilfswerks

und bei jenen von Altmetall, Heilkräutern, Eicheln oder Kastanien helfen. In den Kriegsjahren

kamen noch die umfangreichen Kriegseinsätze hinzu, in deren Rahmen die Hitlerjugend Aufgaben

etwa bei der Post, der Straßenbahn oder im Fernmeldewesen übernahm.

Die gesamten Aktivitäten der Hitlerjugend unterlagen einer einheitlichen ideologischen Ausrich-

tung. Hatte es in den Jugendverbänden vor 1933 einen großen Freiraum bei der inhaltlichen

Gestaltung der Gruppenaktivitäten gegeben, mussten sich die Führer und Führerinnen der Hitler­

jugend streng an die festen Vorgaben der Reichsjugendführung halten, die sämtliche Bereiche

des Dienstes bis ins kleinste Detail und in Unmengen von Anweisungen bürokratisch genau regelte.

Die zentralen Inhalte des Dienstes wurden zudem ständig überprüft. So mussten die zehnjährigen

„Pimpfe“ und „Jungmädel“ ein halbes Jahr nach ihrem Beitritt eine „Pimpfenprobe“ bzw. „Jung-

mädelprobe“ bestehen, um vollwertiges Mitglied in der Hitlerjugend werden zu können. Daran

schlossen sich immer wieder sportliche und weltanschauliche Leistungsprüfungen an. Deren

Ergebnisse wurden im „Leistungsbuch“ festgehalten, in dem „alles, was für die geistige und

körperliche Erziehung des jungen Nationalsozialisten von Bedeutung ist“, verzeichnet werden

sollte. So wurde dieses Dokument zu einer Art politischem Lebenslauf der 10- bis 18-Jährigen.

1939: „Es lebe Deutschland!“

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1939