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ich den fruchtbaren Briefwechsel, der mir

immer so viel gab. Wen habe ich jetzt

noch, der mich versteht, mit dem ich mich

aussprechen kann? Keinen mehr. Keinen

habe ich mehr, der mich bilden kann. Wie

leer ist es jetzt um mich. Einsam war ich

immer, aber jetzt liegt eine Wand um

mich. Und so will ich ein anderer werden.

Einsam, wie ich bin, will ich bleiben und als

anständiger einsamer Mensch ein Leben

für Deutschland und meinen Beruf, den

Architekten, leben. Es lebe die Zukunft.“

In dieser Stimmungslage erschien

Günther erstmals auch das Leben beim

Militär abstoßend und wenig erstrebens-

wert. „Weihnachten! Weihnachten beim

Militär!“, notierte er am 1. Weihnachtstag.

„Eine größere Enttäuschung konnte es

wohl beim besten Willen nicht geben.

Gestern, auf Heiligabend, war eine Feier

der Batterie, o weh! Es war eine Schande

und grenzte an Kulturbolschewismus. Es

wurde gesoffen, gegrölt und geschunkelt.

Die Darbietungen appellierten an das

Sexualleben der Muskoten und das Gan-

ze nannte sich Weihnachtsfeier auf Heilig-

abend. Alles, mit Ausnahme einiger Gei-

gensolos, passte zu Weihnachten wie die

Faust aufs Auge. Von Weihnachtsstim-

mung absolut keine Spur. Komme mir

nur keiner mehr mit Weihnachten beim

Kommiss.“ Was ihm zum Jahresausklang

blieb, war die Vorfreude auf den Heimat-

urlaub, den er dann am 29. Dezember an-

trat. „Vier Tage zu Hause. Das muss doch

einfach herrlich sein. Hoffentlich kommt

auch Vater. Dann wäre ja alles in Ord-

nung. Also: auf einen schönen Urlaub!“

Die Tagebucheinträge zum Jahresende

zeigen also einen aufgrund des Verlusts

des Bruders erstmals nachdenklichen

Günther Roos. Diese Momentaufnahme

darf aber nicht darüber hinwegtäuschen,

dass er sich im Lauf des Jahres 1942 von

einem zwar ambitionierten, in Teilen aber

noch kindhaften Jungvolkführer zu einem

machthungrigen und überzeugten Natio-

nalsozialisten entwickelt hatte, der bereit

war, jedes sich ihm in den Weg stellende

Hindernis skrupellos zu beseitigen.

In mehreren Etappen hatte er einen

Prozess körperlicher, insbesondere aber

auch ideologischer Abrichtung durchlau-

fen, die ihn zu dem werden ließen, der er

Ende 1942 war: ein antiklerikaler und

rassistischer Fanatiker. Angefangen mit

der als Skikurs getarnten einwöchigen

Wehrertüchtigung mit der Schule im Feb-

ruar in Elsenborn über das stark prägen-

de, weil ideologisch hoch aufgeladene

dreiwöchige Reichsausbildungslager der

SS in Germeter und den auf drei Monate

verkürzten Arbeitsdienst mit seiner eben-

falls massiv antikirchlichen Ausrichtung

bis zum Eintritt in die Wehrmacht: In

einem Jahr hatte er all jene Stationen

durchlaufen, die das NS-Regime im Ideal-

fall zur militärischen Ausbildung und po-

litischen Indoktrination für Jugendliche

vorgesehen hatte. Aus dem „Pimpf“ war

innerhalb weniger Monate der propagierte

„wehrhafte deutsche Mann“ geworden:

körperlich trainiert, an der Waffe und im

Geländedienst ausgebildet sowie bedin-

gungslos führertreu, gehorsam und vom

Nationalsozialismus überzeugt.

[

Ü

65]

216

216 /

Ausschnitt aus dem

Illustrierten Beobachter

,

1935

65 Ü „Vom Pimpf zum wehrhaften deutschen Mann“

1942: „Macht will ich haben! Alle sollen mich lieben oder fürchten.“

217

1942