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Das Pogrom am 9. November 1938

Nachdem der 17-jährige polnischer Jude Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in Paris einen Mit­

arbeiter der deutschen Botschaft niedergeschossen hatte, war das für das NS-Regime ein willkomme­

ner Anlass, durch einen Befehl an die Partei-, SA- und HJ-Dienststellen eine Welle gewalttätiger Aus­

schreitungen gegen Juden in Deutschland auszulösen. Die Aktion, propagandistisch zum Ausdruck

„spontaner Volkswut“ erklärt, erreichte ihren Höhepunkt in der Nacht vom 9. auf den 10. November,

kurz nachdem der Botschaftsmitarbeiter seinen Verletzungen erlegen war.

Während des Pogroms wurden im gesamten Reichsgebiet Synagogen niedergebrannt, jüdische Ge­

schäfte und Wohnungen geplündert und zerstört, was angesichts des dabei entstandenen Glasbruchs

die verharmlosende Bezeichnung „Kristallnacht“ entstehen ließ. Schon die offizielle Bilanz war erschre­

ckend: Danach waren 91 Menschen ums Leben gekommen, 267 Synagogen und Gemeindehäuser

zerstört und rund 7 500 Geschäfte verwüstet worden. Außerdem wurden am 10. November mehr als

30 000 deutsche Juden in Konzentrationslager verschleppt, zahlreiche weitere begingen Selbstmord.

Daher geht man heute von mehr als 1 300 Menschen aus, die als Folge des Pogroms starben. Zudem

wurden tatsächlich mindestens 1 400 Synagogen und Gebetshäuser und damit mehr als die Hälfte

des gesamten Bestandes stark beschädigt oder völlig zerstört.

Die Reaktionen der Bevölkerung während des Pogroms, vom NS-Regime als „berechtigte und ver­

ständliche Empörung des deutschen Volkes“ deklariert, waren zumeist von eingeschüchterter Reser­

viertheit und einem schockierten Schweigen geprägt. Wenn sich auch nur wenige Menschen außerhalb

von SA, SS und HJ aktiv an den Zerstörungen und Brandschatzungen beteiligten, muss andererseits

festgestellt werden, dass auch kaum jemand den jüdischen Nachbarn zur Seite stand.

Unmittelbar nach dem Pogrom folgte eine Reihe von Maßnahmen, mit denen die seit Jahren verfolgte

antijüdische Politik fortgesetzt wurde. Die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden („Arisierung“)

wurde nun abgeschlossen, der Druck zur Auswanderung weiter erhöht und die Trennung von der

deutschen Bevölkerung verschärft. Spätestens mit dem 9. November 1938 wurde für Juden jede bis

dahin noch verbliebene Möglichkeit eines Lebens in Deutschland zunichtegemacht.

denunziert zu werden? Das galt umso

mehr nach den sogenannten Nürnberger

Gesetzen vom 15. September 1935, mit

denen die Ausgrenzung des jüdischen Be-

völkerungsteils deutlichere Konturen an-

nahm.

Ihren vorläufigen Höhepunkt erreich-

ten die stetig eskalierenden Diskriminie-

rungen auch in Brühl im November 1938.

Am Abend des 9. November beschlossen

ortsansässige SA-Mitglieder während einer

Feier antijüdische Aktionen.

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Weil man

sich diese aber erst höheren Orts in Köln

absegnen lassen wollte, fand das Pogrom

in Brühl nicht wie andernorts in der Nacht

zum 10. November, sondern erst nach Er-

teilung der entsprechenden Erlaubnis am

folgenden Vormittag und damit vor weit-

aus größerem Publikum statt. Ein kleiner

Trupp von etwa 20 bis 30 SA-Männern,

die von einigen HJ-Führern unterstützt

und von einer wachsenden, schließlich

großen Menschenmenge begleitet wur-

den, zog durch den Ort, zerstörte sämtli-

che jüdischen Geschäfte und Häuser sowie

die Synagoge, die schließlich gegen Mittag

in Brand gesetzt wurde. Die Feuerwehr,

die erst gerufen worden war, als das Nach-

barhaus Feuer gefangen hatte, beschränk-

te sich demonstrativ darauf, die Gebäude

rechts und links der brennenden Synagoge

zu schützen.

Die Kleinstadt

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